Ein bisschen Geschichte

Bereits auf den ältesten bekannten schriftlichen Überlieferungen aus der Zeit der Entstehung der Schrift um ca. 3000 v.Ch. befinden sich Rechnungen, und babylonische Keilschrifttafeln, die in der Zeit zwischen 1800 und 1600 v.Chr. entstanden sind, zeigen deutlich:

Anleitungen zum Rechnen hat man auf Keilschrifttafeln allerdings nicht gefunden.

Die ersten deutschen Rechenbücher, die nach der Erfindung der Buchdruckerkunst vom Ende des 15. Jahrhunderts an von Rechenmeistern verfasst, und danach dann oft in vielen Auflagen gedruckt wurden, verstehen sich als Anleitungen zum Rechnen. Allerdings werden in ihnen die Rechenverfahren für die vier Spezies meist ohne jede Begründung angegeben.

Von einer bemerkenswerten Ausnahme unter derartigen Rechenbüchern spricht der 1707 geborene Leonhard Euler in einem kurzen Lebenslauf, den er seinem Sohn Johann Albrecht 1767 diktierte. Dort heisst es:

... vo ich bey Zeiten von meinem Vater den ersten / Unterricht erhielt; und weil derselbe einer von den / Discipeln des weltberühmten Jacobi Bernoulli gewesen, so trachtete er mir sogleich die erste / Gründe der Mathematic beizubringen, und / bediente sich zu diesem End des Christophs Rudolphs / Coss mit Michaels Stiefels Anmerckungen, wo / rinnen ich mich einige Jahr mit allem Fleiss übte.

Mit Blick auf den heutigen Rechenunterricht - Slogan: `Von Kindern lernen!' - ist es interessant, mehr über das Buch vom Rechnen zu erfahren, in dem sich Leonhard Euler als Kind `einige Jahr mit allem Fleiss übte'.

Michael Stifel, der 1553 die Coss Christoph Rudolphs mit eigenen Anmerkungen neu herausgab, sprach die Hoffnung aus, dass sein Leser

auch werde selbst erfinden / das vor ihm nyemands erfunden hat / wie mir aus Gaben von Gott beschehen / das ich sehr viel dings gefunden hab / davon ich mein lebenlang zuvor nie gelesen hab / oder etwas davon gehört.
Stifel ist bestrebt, das Rechnen zu vereinfachen und die Zahl der Regeln zu vermindern:
denn es ist mein fleiss in sollichen sach / das ich (wa ich kan) aus vielfeltigkeit mache ein einfeltigkeit. Also hab ich auss vielen Regeln der Coss ein einige Regel gemacht; wer da will viel vnd schwere ding leychtlich lernen und behalten / der hab wol acht auff solliche vereinigung.

In seiner Vorrede zu dem Buch sagt Stifel:

Es hat Christoff Rudolff vom Jawer löblicher Gedechtnis anno 1524 die wunderbarliche und ganz Philosophische Kunst des rechnens / genennet die Coss / in deutsche sprach durch den Truck gebracht / so gantz getrewlich und so klar, vnd deutlich / das ich dieselbige / Kunst ohne allen mündltichen vnderricht verstanden hab (mit Gotteshülff) und gelernet. Welches ich zu Ehren seiner getrewen mitteylung gern bekenne. Vnd dieweil ich einen guten teil vieler feyner Jungen Gesellen / geschickt zu sollicher Kunst/ hab hören klagen/ das dis Buch der Coss Christoff Rudolffs nyendert mehr furhanden sey / so sie doch das selbig gern wolten bezalen dreyfach oder auch vierfach. Was aber diser Christoff Rudolff bei etzlichen für danck hab / will ich mich nicht jrren lassen. Ich höret auff ein zeit jm grewlich / und unchristlich fluchen / das er die Coss hatte geschriben / vnd das beste hette verschwiegen / nemlich die Demonstration seyner Regeln...

... Item ob Christoff Rudolff die Demonstrationes nicht hatt gesetzt / so hab ichs doch gethon / Hetts aber nymmermehr thun mögen / wa Christoff Rudolff seine Regeln nicht gesetzt hette / so gar heymlich vnd thewr ist die Coss gehalten worden / bei denen die sie gekundt haben / ehe Christopf Rudolff sie vns hat mitgeteylet / das ich vielleicht auch nymmermehr erfahren hette, was die Coss were. Derohalben hab ich mich vnderwunden Chr. Rudolffs arbeit zu mehren / seyn Buch von Wort zu Wort abzuschreiben/ und jedem capitel meynen Anhang zu setzen.

Der Zustand heute

Schon seit langem gibt es elementare, auch für einen Laien verständliche und zum Selbststudium geeignete Bücher über das Rechnen nicht mehr:

Ein Beispiel hierfür findet man in den Richtlinien des Landes Nordrhein-Westfalen für den Mathematikunterricht in den Grundschulen. Im Punkt 4.3, Darstellungsformen (S. 28), heisst es:
Spezifisch für mathematisches Arbeiten ist der Gebrauch besonderer Symbole und Symbolketten.
Diese Feststellung über das mathematische Arbeiten leuchtet jedem unmittelbar ein, dessen Vorstellung von der Mathematik in der Schule geprägt wurde, dem Bereich also, in dem das Mathematiklernen durch staatliche Richtlinien bestimmt wird, die von Experten für das Lehren und Lernen von Mathematik erstellt wurden.

Dass diese Aussage aus den Richtlinien aber weniger mit der Mathematik selbst zu tun hat als mit dem Wissen dieser Experten von der Mathematik, kann sich auch ein Laie leicht beim Spielen - einem der charakteristischen Merkmale mathematischen Arbeitens - klar machen: Die folgenden Variationen über das Thema "Spezifisch für ..." sind auf diese Weise entstanden:

In meiner Veranstaltung Rechnen in alter Weise soll das angeblich so selbstverständliche Rechnen nicht verausgesetzt, sondern erarbeitet werden. Ich halte es nämlich für wichtig, dass jeder, der Kinder im Rechnen unterrichtet, auch werde selbst erfinden / ... wie mir aus Gaben von Gott beschehen / das ich sehr viel dings gefunden hab / davon ich mein lebenlang zuvor nie gelesen hab / oder etwas davon gehört, und beim Erfinden dann ein wesentliches Merkmal der Mathematik kennenlernt, das durch Georg Cantors berümtes Motto so treffend beschrieben wird:

Das Wesen der Mathematik liegt gerade in ihrer Freiheit.
Weil man die Mathematik nur so an andere weitergeben kann, wie man sie selbst erworben hat, sind derartige Erfahrungen ganz sicher die notwendige Voraussetzung dafür, um den im Punkt 1 der Nordrhein-Westfälischen Richtlinien Mathematik ausgesprochenen Forderungen an den Mathematikunterricht in der Grundschule gerecht zu werden.